Eine Geschichte zweier Städte
Der empirische Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke analysiert die Klischeevorstellungen über die Antipoden-Metropolen Wien und Berlin und enthüllt per »vergleichendem Blick« gängige, überholte Stereotypen.
Hier: Tempo, Tempo! Dort: Gemüt und Gemütlichkeit. Hier Berlin, dort Wien.
Wien und Berlin waren zu Zeiten der klassischen Moderne, in den Jahren 1870 bis 1930, wie das Jens Wietschorke gleich zu Beginn treffend nennt, »Magnete«. Sie zogen sich an. Sie stießen sich ab. Solche reaktiven Magnet- und Kraftfelder gibt es auch in der Kultur, bei sozialen Milieus und intellektuellen Phänomenen. Wien und Berlin, die zwei Metropolen, sind hierfür zwei exzeptionelle Beispiele, da sie in den sechzig Jahren, die der Ethnologe und Kulturwissenschaftler in den Fokus nimmt, rivalisierende Zentren waren: politisch, kulturell, geistesgeschichtlich.
Schon früh, kurz nach der Jahrhundertwende, galt dies als Duell zweier sehr unterschiedlich eingestufter Antipoden. Berlin: Stadt des Tempos, der Industrialisierung, der Elektrifizierung, hektischer, immer rasanter werdender Modetänze, Wien: Ort katholischer Saturiertheit und müßiger Kaffeehausbesucher.
Jens Wietschorke nimmt dieses Wechsel- und Abgrenzungsverhältnis inklusive Wissens- und Kulturtransfer – die Übersiedlung vieler Journalisten nach Berlin, den »Export« der Psychologie nach Deutschland, ebenso die avancierte Kunst Klimts, Schieles, Kokoschkas – in seinem überaus lesbaren, ja eleganten und argumentativ klugen Buch in den Blick. Es ist eine überaus erhellende Untersuchung über Klischees, Wien, das Herz, Berlin, der Kopf, und gängige, träge wie stereotyp tradierte Vorstellungen über Kunstformen und Lebensweisen. Es geht ihm auch um Wandlungen, Transformationen innerer wie äußerer Art. Er zieht zwar viele Stadtbeschreibungen heran - was ihn jedoch interessiert, ist dabei der »vergleichende Blick« und dessen Analyse, der »Zirkulationsprozess zwischen Klischee und Wirklichkeit«. Eine Vielzahl mittelbekannter wie großer Namen zieht vorbei, von Max Reinhardt bis Vicki Baum, von Schönberg bis Musil. Wietschorke führt ein funkelndes Kaleidoskop der Berliner und der Wiener Moderne vor, das vieles neu, in aufregend neuer Ausleuchtung erhellt und zur selben Zeit darüber aufzuklären vermag, warum der heutigen Leserschaft so vieles so bekannt vorkommt. So legt er kurrente gängige Klischeevorstellungen über Berlin und Wien auf die Couch.
(Abbildung Berlin Oranienplatz: Wikicommons)
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde